Es ist nur gefühlt so, dass es in Frankreich so gut wie keine Tankstellen gibt. Rund 100 Kilometer können in Frankreich entlang der Nationalstraßen allerdings durchaus zwischen den Zapfsäulen liegen. Bevor Sie fragen: Nein, ich habe nur eine ganz kleine Vielleicht-habe-ich-ja-doch-einen-leeren-Tank-Paranoia. Schuld war sowieso bloß mein Navi. Das zeigte einfach keine Tankstellen an, sodass ich auch nie wusste, wie weit es noch bis zur nächsten war. Jedes Mal kam es mir ewig lang vor. Dabei dachte ich ständig: Ich muss jetzt tanken, ich muss jetzt tanken! Sofort! Kurz, ich stand unter Stress.
Der Grund: Ab dem ersten Tanken an einer französischen Zapfsäule benahm sich meine Bezintankanzeige seltsam. Mal zeigte sie etwas an, das sich als aktueller Tankstand interpretieren, aber nicht mit den gefahrenen Kilometern in Übereinstimmung bringen ließ, dann war es umgekehrt. Das beeinträchtigte, wie Sie bereits bemerkt haben, mein unbeschwertes Cruisen Richtung Normandie. Meine einzige Erklärung für den Messgeräteausfall: Weil ich bei meinem kleinen Gelben Jahrgang 1996 sicherheitshalber (und auch aus anderen Gründen) kein E-10-Benzin in den Tank fülle und es kein Super E-5 gab, musste ich auf Superplus zurückgreifen. Das Ergebnis: Meine Twingo-Tankanzeige benahm sich, als habe sie sich verschluckt. Aber das Auto schnurrte und fuhr brav weiter.
Kein Grund zur Besorgnis, sagte ich mir immer wieder – und habe ab dem ersten Tankvorgang irgendwo kurz nach nach Mulhlose auf irgend einer Nationalstraße, die in Richtung Paris führt, jede, wirklich jede, Tankstelle am Wegesrand angefahren. Und das, obwohl ich Kilometer zählte (siehe Tag eins) und auch in etwa weiß, wie weit ich mit meinem Tankinhalt fahren kann. Will heißen, ich bekam selbst nach 200 Kilometern Fahrtstrecke mit sehr viel Mühe nur zwischen sechs und acht Liter in den Tank. Ich weiß zwar, dass mein Renault sparsam ist, aber das erschien mir dann doch mysteriös. Ja weiß ich denn, ob der Kilometerzähler in Frankreich nicht auch falsch zählt, weil er kein Französisch kann? Obwohl er das als Bestandteil eines Wagens einer französischen Firma doch eigentlich können müsste.
Nach der ersten Nacht im Hotel Saint Martin in Creully (siehe vroangegangener Bericht) war jedoch alles gut. Eine nette Bedienung machte mir beim Frühstück nämlich klar, dass es in unmittelbarer Nähe meiner Unterkunft (also im Zehn-km-Umkreis) gleich zwei Tankstellen gibt. Also fuhr ich unbeschwert los in dem Bewusstsein, dass ich zehn Kilometer immer schaffe. Falls mein Tank aus irgendwelchen unerfindlichen und völlig unlogischen Gründen komplett leer sein sollte, konnte ich die nächste Tankstelle samt Benzinkanister im Zweifel auch zu Fuß erreichen.
Zunächst fuhr ich die ersten knapp zwei Kilometer selbstredend in die Prieuré Saint Gabriel (siehe Bild oben). Deswegen war ich ja hier. Gut, ich hätte laufen können, doch das Wetter war nicht danach. Es regnete ab und zu heftig. Was ich schon wusste: Die Abtei war im 11. Jahrhundert von den Herren von Creully als Ableger der Abtei von Fécamp gegründet worden. Das große Eingangstor, der Turm der Gerechtigkeit, das Refektorium, alle bestehen aus gelbem Naturstein. Die Abteikirche gilt aus bauliches Juwel, obwohl das Kirchenschiff Mitte des 18. Jahrhunderts verschwunden und heute nur noch der Chor erhalten ist: ein Meisterwerk normannisch romanischer Baukunst, zwei Innenebenen mit breiten Arkaden, eine Einrichtung mit einer Vielzahl von Motiven, darunter gebrochene Stäbe, Pflanzen, verdrehte Formteile, Tierköpfe… Die Kapelle steht seit 1840 auf der Liste französischer Denkmäler. Auf Initiative von Arcisse de Caumont wurde die Abteil 1845 vom Staat aufgekauft. Seit 2008 befindet sie sich im Besitz des Departaments Calvados.
Die Anlage mit den alten Steinhäusern, den zahlreichen Obstbäumen, der Kapelle – ja, hier könnte sich ein Engel wohlfühlen. Doch alles war leer und verlassen. Dafür trugen die Bäume massenweise rotbackige Äpfel. Mir lief trotz ausgiebigem Frühstück das Wasser im Mund zusammen. Ich war gerade versucht, einen mitzunehmen, da las ich auf einem Schild an der Pforte zur Kapelle: „Bitte lassen Sie die Äpfel liegen, die wir aus Zeitgründen noch nicht einsammeln konnten.“
Mit wir sind Saint Gabriel und seine Helfer gemeint, die sich um das Gelände kümmern, vermute ich. Deshalb habe ich selbstredend keinen Apfel geklaut, weder vom Baum noch aus dem Gras und dachte mir: Vielleicht entsteht aus den Äpfeln ja doch noch jener Obstbrand, der den Namen der Region Calvados in der ganzen Welt berühmt gemacht hat. Ich fand diese Idee tröstlich.
Etwas melancholisch wurde ich aber doch, nicht nur wegen der Äpfel. Die romantische Abteil Saint Gabriel mit ihren gut erhaltenen Gebäuden präsentierte sich wie einst Dornröschen, ehe der Prinz sie wachgeküsst hat. Niemand lebt hier, niemand kann sich morgens nach dem Aufstehen an den Häusern, den Bäumen, der Gartenanlage erfreuen. Da war an diesem grau-bewölkten Septembertag nur ich. Gut, vielleicht lag es ja am Regen.
Bald darauf stieß ich auf weiteres Schild an einer alten Natursteinmauer. Es besagt, dass die englischen Truppen bei der Landung der Alliierten in der Normandie als Erstes durch das daneben liegende Tor des dazugehörigen Wirtschaftsgebäudes gekommen sind. Es war schon seltsam, als Deutsche hier zu sein, als Bürgerin des Landes, das während der Nazizeit so viel Leid und all diese Erinnerungen verursacht hat. Die Menschen in der Region haben diesen Tag , die Operation Overlord nie vergessen, halten jene Männer und Frauen, die im Juni 1944 an ihrer Küste gelandet sind in Ehren. In meinem Hotel entdeckte ich überall an der Wand Bilder von Soldaten und Soldatinnen, die dabei waren.

Portal des Schlösses von Brécy
Die Gegend um Saint Gabriel hat nicht nur dieses Denkmal zu bieten. Überall finden sich Zeugen der langen Geschichte der Normandie. Außer Abteien und in den Stein der Burgen von Caen und Falaise gehauenen Erinnerungen an Wilhelm den Eroberer und andere kriegerische Normannen, gibt es in der Umgebung von Saint Gabriel de Brécy einige Schlösser, große, kleine, manche aus dem Mittelalter, andere, die später erbaut worden sind. Eines liegt ganz in der Nähe der Mühle Saint Gabriel: Das Schloss Brécy, dessen Grundstein im 17. Jahrhundert gelegt worden ist. Ein überregional bekannter Garten im Stil der italienischen Renaissance, ergänzt durch französische Details, umgibt das Anwesen.
Das bei meinem Eintreffen ebenfalls verlassene kleine Schloss von Brécy wurde 1958 von Jacques de Lacretelle und seiner Ehefrau vor dem Verfall gerettet. Sie legten die kunstvollen Gartenanlagen inklusive der Wasserbecken an. Ab 1992 restaurierten Didier und Barbara Wirth die architektonischen Elemente und werkelten weiter an den Außenanlagen. Angrenzend ans Schloss befindet sich die Kirche Sainte-Anne de Brécy, die aus dem 14. Jahrhundert stammt und über eine kleine Pforte zu erreichen ist. Einige Meter von der Kirche entfernt liegt ein kleines Bassin, dessen Wasser seit dem Mittelalter den Ruf hat, Augenkrankheiten heilen zu können. Das besagt jedenfalls eine Legende.

Die Kirche St. Pierre
Danach wollte ich gleich weiter ins Schloss von Fontaine Henry, doch das war noch geschlossen. Dafür bin ich rund zwei Kilometer weiter einen Waldweg entlangmarschiert, der zu einer verlassenen Kirche aus dem 11. Jahrhundert führt. Saint Pierre, wieder so ein Monument von historischer Bedeutung, von denen es hier in Frankreich unzählige gibt. Viele davon – zumindest meiner bisherigen Erfahrung nach – sind noch nicht einmal besonders gut ausgeschildert und deshalb schwer zu finden. Das gilt auch für St. Pierre (womit wir unbeabsichtiger Weise, ich kannte die Kirche ja vorher nicht, übrigens bei meinem Vornamen wären).
Da ich bis zur Öffnung des riesigen Schlosses in Fontaine Henry noch rund zwei Stunden Zeit hatte, beschloss ich, nach Courseulles-sur-Mer weiter zu fahren, zum Atlantik – und landete prompt in einem Ort, bei dem die Allierten an Land gingen. Leider konnte ich nicht länger an diesem Strandabschnitt bleiben, denn der Wind hatte stark aufgefrischt und peitschte mir die Regentropfen ins Gesicht. Ich habe es gerade noch geschafft, die fangfrischen Auslagen der Fischer am Quai zu begutachten. Dort gibt es alles, was gut und teuer ist – Austern, Langusten, Krabben, Krevetten, Krebse – man konnte bei einem Glas Wein, allerdings an Outdoor-Tischen gleich alles verkosten. Letzteres hab ich sein lassen. Dafür war mir der Tag dann doch zu sturmumtost. Aber ich habe mir Garnelen gekauft und mich anschließend nach der Tankstelle umgeschaut, die es laut der Bedienung in diesem Ort geben sollte. Ich habe sie gefunden. Den Menhir la Demoiselle, also den Fräuleinstein, der auf der Karte in dieser Gegend verzeichnet ist, habe ich leider nicht entdeckt. Trotz intensiver Suche und diversen Nachfragen bei den Einheimischen. Das Ding kannte einfach keiner und deswegen auch nicht den Weg dorthin.
Dafür bin ich über schmale Seitenstraßen zurück zum Schloss von Fontaine Henry gekurvt, aß dort auf dem Parkplatz im Auto meine Garnelen und kam mit einem englischen Ehepaar aus Southhampton ins Gespräch. Solche Ehepaare gibt es hier viele, meist im Rentenalter, vermutlich auf den Spuren eines Verwandten, der hier gelandet ist. Es stellte sich heraus, dass sie den Schwarzwald kannten.

Das Schloss in Fontaine Henry
Das Renaissance- Schloss von Fontaine Henry ist beeindruckend und seit zehn Jahrhunderten in Familienbesitz ohne jemals verkauft worden zu sein. Dennoch wechselten die Eigentümerfamilien mehrmals den Namen, da das Schloss immer wieder auf Frauen vererbt worden ist. Sie trugen berühmte Namen wie Tilly und Harcourt. Anfang des 11. Jahrhunderts existierte auf dem Areal eine mittelalterliche Festung, an deren Stelle die Tilly zwischen 1200 und 1220 ihr Schloss bauten. Aus dieser Zeit existieren noch Kapelle und die Kellergewölbe, die damals das Erdgeschoss des Wohngebäudes bildeten. 1374 heiratete Jeanne de Tilly Philippe d’Harcourt und brachte das Herrenschloss mit in die Ehe. Nach der Zerstörung im Hundertjährigen Krieg begann der Wiederaufbau, der fast 100 Jahre lang dauerte.
Der Garten, oder besser Park, ist eine großzügige nlage und bietet einen kreativ gestalteten Geschichtsrundgang durch die Vergangenheit des Schlösses. Hinein kam ich an diesem Tag allerdings nicht mehr, das Wetter machte mir Sorgen. Schon auf der Hinfahrt hatte der beginnende Sturm Bätter und Äste von den Bäumen vor mir auf die Straße gefegt. Inzwischen hatte es noch weiter aufgefrischt und ich begann, um die Unversehrtheit meines Gefährts zu bangen. Mein kleiner Gelber sollte sicher zurück in den sicheren Unterstand des Hotels Saint Martin. Dahin kam er dann auch.
Mich zog es zu Fuß weiter, Regen hin oder her. Denn auch hier in Creully gibt es ein Schloss. Waldwege musste ich dafür nicht passieren. Es liegt fast direkt neben dem Hotel und ist fußläufg gut zu erreichen. Darin befinden sich eine Kunstgalerie und ein Museum, das angeblich zeigt, was zum Thema Radio bisher ungesagt geblieben ist. Ich bin nicht ins Museum, ich war müde, außerdem stürmte es inzwischen, was das Zeug hielt. So entschied ich mich nach einigen Fotos von außen, ins Trockene zu gehen. Und noch eine Nacht länger zu bleiben. Wer weiß, wann ich wieder in eine Gegend komme, in der sich gleich zwei Tankstellen in fast unmittelbarer Nähe zu meinem Hotel befinden.
Am Folgetag ging es ans Meer, danach zum Teppich von Bayeux. Doch das ist eine andere Geschichte. Mit Saint Gabriel hat sie nichts mehr zu tun.